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Biotechnologie unter Palmen

Auf der Zuckerrohrinsel Kuba arbeiten Genforscher weltweit mit an vorderer Front

Auf ihrem rechten Bein hat Chenia Lomako einen Fleck, weiß wie Zucker. Chenia ist zehn Jahre alt. Das Mädchen stammt aus Tarkov, einem Dorf bei Tschernobyl. „Ich war zwei, als sich mein Knie verfärbte,“ sagt Chenia, „später habe ich mich geschämt, nicht so zu sein wie die anderen Kinder.“ Vitiligo nennen Ärzte die seltene Pigmentstörung der Haut. Die Ursache der Krankheit ist bis heute nicht eindeutig erforscht. Doch nach dem Reaktorunfall in der Sowjetunion hatten plötzlich viele Kinder rund um Tschernobyl diese Flecken auf der Haut. Wie ein Mahnmal an den atomaren Super-GAU trägt Chenia seitdem ihre Krankheit auf dem Körper – tapfer meist und manchmal unter Tränen.

Chenia ist für drei Monate zur Kur in Kuba. Im Hospital Tarará, einer Klinik unter Palmen zwanzig Kilometer vor Havanna. Grüne Wiesen, ein schimmernder Sandstrand vor dem Türkisblau des Meeres: An der kubanischen Karibikküste – dort, wo Urlauber mit Rum-Cocktails relaxen – erhofft sich Chenia die Heilung von den Folgen des radioaktiven Fall-Outs. Wie Chenia wurden in den vergangenen Jahren im Krankenhaus Tarará rund 15.000 Kinder und 2.000 Erwachsene mit Strahlungsschäden aus Tschernobyl kostenfrei behandelt.

„Melagenina Plus“ heißt die Salbe aus dem Genlabor, mit der die Krankenschwester dreimal täglich Chenias Knie massiert. Das biotechnologische Präparat regt die Zellen an, neue Pigmente zu bilden. „Melagenina ist zur Zeit das einzige effektive Medikament zur Behandlung von Vitiligo,“ konstatiert der kubanische Professor für Pharmakologie Carlos Miyares Cao. Als Leiter des „Centro de Histoterapía Placentária“ hat Cao zwanzig Jahre lang an dem Extrakt aus der Plazenta geforscht, das in Kuba kommerzialisiert und mit 13 Patenten geschützt ist. Weltweit leiden zwischen 120 und 170 Millionen Menschen an Vitiligo. „Mit Melagenina erzielen wir einen 90-prozentigen Therapie-Erfolg ohne Nebenwirkungen,“ sagt Miyares Cao, Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Dermatologie. 

Die kubanische Revolution nährt ihre Kinder – selbst wenn es nicht die eigenen sind. Da ist zum Beispiel VA-MENGOC-BC, eine Impfung gegen Meningitis B. Der Wirkstoff aus dem Gen-Labor ist das erste Produkt, mit dem Kuba das vierzig Jahre andauernde Handelsembargo der USA durchbricht. Rund eine halbe Million Menschen erkranken jährlich an dieser Hirnhautentzündung, verursacht durch Meningokokken-Bakterien. Bei zwölf Prozent der Betroffenen verläuft die Infektion tödlich. Entwickelt wurde der Impfstoff nach 1984 unter Leitung der Biologen Concepción Campa und Gustavo Sierra im renommierten Finlay-Institut bei Havanna. Im Februar 1987 wurden 106.251 Schüler in sieben Provinzen des Landesinneren geimpft. Das Resultat der Feldstudie lag zwei Jahre später vor: VA-Mengoc-BC erzielte eine Wirksamkeit von 80 bis 99 Prozent je nach Alter und eine Schutzdauer von zwei Jahren.

Dann vereinbarte Kuba eine Kooperation mit dem britischen Pharma-Konzern SmithKline Beecham. Und später verhandelte die Karibikinsel über eine Patentierung und die internationale Kommerzialisierung des Impfstoffs.

Auftakt der kubanischen Biotechnologie war 1981 die Produktion und klinische Nutzung von genetisch gewonnenem Interferon. „Kein anderes Land der Dritten Welt hat vorher Interferone durch genetische Manipulation gewonnen,“ dokumentiert der Molekularbiologe Manuel Limonta Vidal als Leiter der Forschungsgruppe. Heute stellt Kuba – für ein Entwicklungsland einzigartig – Interferon in industriellem Maßstab her und vertreibt Alpha-2 und Gamma-Interferone zu konkurrenzlos günstigen Preisen weltweit. Außerdem vermarktet Kuba eine Impfung gegen Hepatitis B in Lateinamerika, Streptokinase zur Behandlung von Herzinfarkten sowie 40 Typen monoklonaler Antikörper. Die Medizinfirmen MediCuba und Heber Biotec S.A. exportieren kubanische Biotech-Produkte bereits in 40 Staaten Lateinamerikas, Europas und Asiens. Mit rund 150 biotechnologischen Präparaten ist es Kuba in den vergangenen 20 Jahren gelungen, auf dem internationalen Pharmakologie-Markt Fuß zu fassen. 

„Für ein Agrarland wie Kuba ohne wissenschaftliche Tradition ist der Fortschritt in der biotechnologischen Forschung eine große Leistung,“ sagt Hermann Bujard, Professor für Molekulare Biologie an der Universität Heidelberg. Der frühere Präsident der Deutschen Gesellschaft für Genetik, jahrelang Leiter der biologischen Forschung von Hoffmann-LaRoche, zeigt sich „beeindruckt vom kubanischen Willen, einen Sprung nach vorne zu machen.“ Die kubanische Gentechnologie liege unter den Entwicklungsländern mit Abstand an der Spitze. Von einer Konkurrenzfähigkeit zu den USA, Japan oder europäischen  Staaten sei die Biotechnologie in Kuba weit entfernt. Immerhin: Kuba nimmt bereits viele Millionen Dollar jährlich mit Produkten aus dem Genlabor ein. 

Eine Viertelstunde Fahrt außerhalb der verfallenen Altstadt von Havanna steht das achtstöckige „Centro de Ingeniería Genética y Biotecnología“, kurz CIGB. Die am 1. Juli 1986 eröffnete Wissenschafts-Stadt von Havanna gehört zu den größten Technologiezentren der Welt. Auf 60.000 Quadratmetern Grund und verteilt in vollklimatisierten Labors klicken moderne Massenspektrometer, stehen Elektronenmikroskope aus Japan, Apparaturen zur Reinigung von Proteinen und Laserkanonen aus der Schweiz. Wo vor der Revolution amerikanische Zuckerbarone in kolonialen Villen residierten, arbeiten heute Tausende von Biochemikern, Molekularbiologen und Gentechnikern unter höchstem Leistungsdruck. Derzeit forschen die kubanischen Wissenschaftler nach einer Impfung gegen den Krankheits-Erreger von

Hepatitis-C, Salmonellen-Infektion sowie Schutz gegen Cholera und Dengue-Fieber

„Was die Kubaner dort selbst in den Jahren ihrer Wirtschaftskrise hochgezogen haben,“ bestätigte dereinst Staatssekretär Catenhusen vom deutschen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Entwicklung, „ist wirklich phänomenal.“ Catenhusen, von einer Kuba-Reise nach Berlin zurückgekehrt, zog Bilanz: „Kuba ist voll in die Forschungsleistung der Ersten Welt integriert.“ Tatsächlich seien nur wenige Labors weltweit besser ausgestattet als das kubanische CIGB. Dazu gehörten unter anderen das Massachussetts Institute of Technology und das Founders Research Center von Genentech –  unter den rund zwanzig führenden Pharma-Riesen (neben Monsanto, Novartis und DuPont) der Konzern, der mit die höchsten Gewinne erzielt.

Wie erklärt sich das Medizin-Wunder der Antillenrepublik? An erster Stelle durch das Gesundheitssystem Kubas, das selbst nach deutschen Maßstäben sehr gut abschneidet. Ein Beispiel: 62.000 Mediziner zählt das Elf-Millionen-Volk – die Ärztedichte ist nahezu doppelt so hoch wie in Deutschland. Seit bereits fünfzehn Jahren vergleicht Kuba seine Gesundheitsstatistiken nicht mehr mit Entwicklungsländern. Tatsächlich liegt die durchschnittliche Lebenserwartung der kubanischen Bevölkerung heute bei 76 Jahren und ist damit so hoch wie in den Staaten der „Ersten Welt“.

Die beispiellose medizinische Grundversorgung der karibischen Inselrepublik dient aber nur als Basis einer ehrgeizigen Strategie, mit der sich Kuba in die erste Liga der globalen biotechnologischen Forschung katapultiert hat. Denn ungeachtet der real existierenden Mangelwirtschaft investierte die Kommunistische Partei Kubas selbst in den Jahren der Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch des Ostblocks Unsummen in Gentechnologie. Der lukrative Zukunftsmarkt wird als zweiter Grundpfeiler der Inselwirtschaft neben dem bereits boomenden Tourismus etabliert. Das Ministerium für Wirtschaft und Planung (MEP) schätzt, dass der Besuch von fast 2,5 Millionen ausländischen Reisenden der kubanischen Wirtschaft in diesem Jahr etwa 1,159 Milliarden Dollar (1,012 Milliarden Euro) einbringen wird.

Dass die sozialistische Mangelwirtschaft dringend Devisen benötigt, um die Revolution vor dem Ruin zu retten, ist bekannt. Der Zusammenbruch des Ostblocks beschleunigte aber noch die Fortschritte der kubanischen Biotechnologie. Denn mit einem Schlag waren Millionen Dollar an russischer Entwicklungshilfe ausgefallen: Das kubanische Bruttosozialprodukt stürzte nach 1989 in nur drei Jahren um 45 Prozent. Kuba mußte sich quasi übernacht neue Wirtschaftsräume erschließen, um den Staatshaushalt vor dem Bankrott zu retten.

Kein einfaches Unterfangen. Wer die Altstadt von Havanna kennt, weiss, wie hart der Alltag der Bevölkerung auf der Zuckerrohrinsel ist. La Habana Vieja, die Altstadt der Karibikmetropole – das ist ein baufälliges Bühnenbild in rosa, blau und braun für einen surrealen Film, der von Ideologie und Hoffnung handeln würde, von Armut, Musik und Melancholie. Man muß sich nur eine Häuserzeile abseits der renovierten Calle Obispo wenden, um einen morbiden Alptraum zu entdecken. Ein kafkaeskes Labyrinth aus kolonialen Fassaden, von denen Farbschichten blättern und der Putz bröckelt. In der Calle Amargura, der Gasse der Bitterkeit zwischen Kapitol und Kathedrale, dort wo Wäsche auf Leinen zwischen Balkonen trocknet und Abfalltonnen den Bürgersteig blockieren, ist die kubanische Krise offensichtlich.

 „Die Zukunft unseres Vaterlandes muß notwendigerweise eine Zukunft der Wissenschaftler sein,“ forderte Fidel Castro, kaum dass der bärtige Guerilla-Kämpfer den korrupten Diktator Baptista 1959 aus Havanna vertrieben hatte. Und erklärte: „Die soziale Revolution haben wir gemacht, um eine andere Revolution vorzubereiten: die technische.“ Ein Zitat der Parteizeitung Granma vom 22. Juni 1986 verdeutlicht, wie ernst dem massimo líder der Traum von Kuba als medizinischer Weltmacht seit jeher ist. „Wenn Kuba die USA auf dem Gebiet der Gesundheitssystems aussticht, ist das die historische Rache für Jahrzehnte der Feindschaft und insbesondere für das US-Embargo, unter das selbst Arzneimittel und Medizin-Technologie fallen.“

Das konsequent ausgerichtete, medizinische Know-How einer zentralistisch gesteuerten und autoritär kontrollierten Gesellschaft stellt tatsächlich einen nicht zu unterschätzenden Vorteil dar. Kurzerhand setzte die Nomenklatura der Partei Biologie und Medizin auf die erste Stelle der Lehrpläne aller kubanischen Schulen. Mit Erfolg. Existierten 1960 nur eine Handvoll Wissenschaftler auf Kuba, geht ihre Zahl heute in die Tausende. Neugegründete Universitäten produzierten qualifizierten Nachwuchs, der sich in Deutschland, Japan und den USA das noch fehlende Wissen erwarb. Und die Besten eines jeden Jahrgangs erwartet ein für kubanische Verhältnisse gut dotierter Job in der neuen Wissenschafts-Elite der Zuckerrohrinsel.

Chenia, das Mädchen aus der Ukraine, weiß nichts von den Gen-Geschäften im Dienst der kubanischen Revolution. „Ich bin glücklich,“ sagt sie, „wenn meine Haut wieder heilt.“

Mehr lesen:

Panamerican Health Organisation

https://www.paho.org/cub/dmdocuments/BIOCenHistoterapia-MelageninaPlus.pdf

(Erstmals publiziert in der Süddeutschen Zeitung, Sept. 2000)

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